MEDITATION und GEWAHRSEIN
"Ganz und gar sein heißt, alles zu sein." Meditation ist für viele Menschen ein unvertrauter Begriff mit einer eher vagen Bedeutung, und es erscheint ihnen kaum vorstellbar, sich darauf einzulassen. Doch wir können Meditation auch ganz einfach Gewahrsein nennen. Meditation ist Gewahrsein. Die Gründe, die jemanden zur Meditation veranlassen, können recht unterschiedlich sein. Bei vielen Menschen ist es die von Eigenschaften eines bestimmten Meisters oder Lehrers ausgehende Faszination oder die Sehnsucht nach der Erfahrung Gottes, die sie an die Meditation heranführt. Anderen geht es darum, den menschlichen Geist zu begreifen. Manche wissen anfangs nicht einmal um ihre eigentliche Bedeutung, verspüren jedoch ein tiefes Bedürfnis, sich von einer inneren Trauer, einem Schmerz, einem lebenslangen Gefühl der Unvollkommenheit zu befreien. Hier steht eine einfache Übung der Achtsamkeit zur Verfügung, die zur Ganzheit, zu natürlicher Vollkommenheit führt. Die Grundlage dieser Übung ist eine unmittelbare Teilhabe an jedem einzelnen Augenblick der Gegenwart, in die alles verfügbare Gewahrsein und Verständnis einfließt. Wir alle haben bis zu einem bestimmten Grad Konzentrationsfähigkeit und Bewusstheit entwickelt. Allein schon das Lesen dieses Buches oder die Gestaltung unseres komplizierten Lebens erfordern Gewahrsein und Konzentration. Diese geistigen Qualitäten sind in jedem von uns präsent. Die Meditation verstärkt diese Eigenschaften durch systematisch, sanft und konsequent angewandte Techniken. Um Konzentration zu entwickeln, wählen wir ein einziges Objekt des Gewahrseins und erinnern den Geist daran, immer wieder zu diesem primären Objekt zurückzukehren und bei ihm zu verweilen. Zwischen verschiedenen Meditationsformen - wie z.B. dem Sufitanz, der Konfrontation mit Zen-Koans, der Sitz-Meditation, dem christlichen Gebet, dem Chanten von Mantras, dem Lauschen auf den inneren Klang, der Licht-Meditation, der Beobachtung körperlicher Empfindungen, der Visualisationstechnik oder der Wahrnehmung des Atems - bestehen hinsichtlich des primären Objektes, mit dessen Hilfe die Konzentration vertieft wird, grundlegende Unterschiede. Wir entscheiden uns für ein solches Objekt und arbeiten mit ihm, mag es sich nun um ein Produkt der begrifflichen Sphäre (wie eine verbale Wiederholung oder das Leitbild von Mitgefühl) handeln oder um etwas immer Gegenwärtiges, wie die im Körper entstehenden Empfindungen. Ein wirksames Mittel zur Vertiefung der Konzentration ist das achtsame Atmen. Der Atem ist ein ausgezeichnetes Objekt, denn er ist ein konstanter Bestandteil unserer Erfahrung. Zudem wird das Gewahrsein durch die Anpassung an seine Schwankungen zu einer fortschreitenden Verfeinerung veranlasst. Das Gewahrsein beobachtet die Empfindungen, die das natürliche Kommen und Gehen des Atems mit sich bringt. Es durchdringt die subtilen Wahrnehmungen, die jeden Atemzug begleiten. Wenn wir die Aufmerksamkeit auf diese Empfindungsebene richten, verstricken wir uns nicht mehr so intensiv auf der verbalen Ebene, die vom Chor der Gedanken beherrscht wird und uns gewöhnlich in einen "inneren Dialog" hineinzieht. Der innere Dialog beschäftigt sich fortwährend mit Kommentaren, Bewertungen und Plänen. Er enthält eine Menge auf uns selbst gerichtete Gedanken, eine Menge Selbst-Bewusstsein. Er verdeckt das Licht unserer natürlichen Weisheit und hindert uns daran, zu erkennen, wer wir eigentlich sind. Er macht eine Menge Lärm und fesselt unsere Aufmerksamkeit an ein Bruchstück der uns umgebenden Wirklichkeit. Wird das Gewahrsein jedoch exakt auf das Kommen und Gehen des Atems fokussiert, treten alle anderen Aspekte des geistig-körperlichen Prozesses im Augenblick ihres Erscheinens automatisch und glasklar in den Brennpunkt. |
Die Meditation erweitert kraft unmittelbarer Erfahrung den Kontakt zu unserer inneren Wirklichkeit.
Wenn wir beispielsweise den Geist wie einen Film betrachten, der auf eine Leinwand projiziert wird, kann er sich mit zunehmender Konzentration gewissermaßen bis zur Zeitlupe verlangsamen und uns mehr und mehr Einzelheiten des Geschehens zeigen. Dies wiederum vertieft unser Gewahrsein und macht es uns ferner möglich, fast schon jedes Einzelbild zu betrachten und zu entdecken, wie ein Gedanke unmerklich in den nächsten übergeht. Wir durchschauen, dass Gedanken, die wir mit "ich" und "mein" verbanden, nichts weiter als die Abwicklung eines Prozesses sind. Diese Perspektive hilft uns dabei, unsere starke Identifikation mit der scheinbar festgefügten Realität des geistigen Spielfilms zu durchbrechen. Wenn uns das Melodram nicht mehr so sehr in seinen Bann zieht, sehen wir es an uns vorüber fließen und können seiner Bilderkette einfach zuschauen. Nicht einmal der Ablauf bewertender Kommentare oder ein Augenblick nervöser Ungeduld kann uns in die Handlung hineinziehen. Wenn wir das Geschehen jedes einzelnen Augenblicks einfach nur verfolgen und ohne Bewertungen oder Affekte beobachten, verlieren wir uns nicht in dem Gedanken "dieser Moment ist mir lieber als jener, und dieser angenehme Gedanke ist mir willkommener als der Schmerz in meinem Knie". Was wir auf dem Feld des Gewahrseins erleben, sobald wir jene absichtslose Bewusstheit zu entwickeln beginnen, ist bemerkenswert: Wir werden der Wurzeln gewahr, aus denen die Gedanken hervorgehen. Wir durchschauen die Intention, aus der sich eine Handlung entfaltet. Wir beobachten den natürlichen Prozess des Geistes und entdecken, dass vieles von dem, was wir liebevoll als unser "Ich" behüten, im Grunde aus dem Ablauf unpersönlicher Phänomene besteht. Wir erkennen, dass es wahrhaftig nicht notwendig ist, irgendjemandem irgendwelche Fragen zu stellen. Wir müssen nicht außerhalb unser selbst nach der Antwort suchen. Indem wir den Fluss ergründen, wird der Flussselbst zur Antwort. Das Stellen der Frage selbst birgt die Antwort. Wenn wir fragen: "Wer bin ich?" dann finden wir den, der wir sind, in den Prozessen, aus denen diese Frage entspringt. Ohne Zweifel ist der tiefste Grund unserer Angst vor dem Tod der, dass wir nicht wissen, wer wir wirklich sind. Wir glauben an eine persönliche Identität, die sich als einzigartig und abgetrennt vom Ganzen fühlt. Wenn wir jedoch den Mut haben, sie genauer zu untersuchen, dann wird uns bewusst, dass diese sogenannte Identität völlig auf einer langen Liste von Gegebenheiten beruht, wie unserem Namen, unserer Geschichte, unseren Beziehungen, unserer Familie, unserer Arbeit, unseren Rollen, unseren Freunden, Kreditkarten, usw. Und wir verlassen uns auf ihre ungewisse Unterstützung für unsere vorübergehende Sicherheit. Und natürlich leben wir deshalb immer in Angst vor den unvermeidbaren Veränderungen unseres Lebens, und vor dem Tod. Wenn das Gewahrsein in noch größere Tiefen vorstößt, dann wird uns klar, dass wir den denkenden Geist mit einer absoluten Realität ausgestattet haben, die er aus sich heraus gar nicht besitzt. Wir hatten übersehen, dass er ein relativer Bestandteil einer weit größeren Wirklichkeit ist. Der Ausstieg aus unserer Abhängigkeit vom Denken macht uns deutlich, dass wir normalerweise nur einen kleinen Ausschnitt der immensen Aktivität des Bewusstseins wahrnehmen - die Verhaftung an das Denken hat den größten Teil blockiert. Der denkende Geist unterscheidet sich erheblich von der absichtslosen Bewusstheit, die allen Dingen Raum zu freier Entfaltung gibt. Denken erschöpft sich in der Auswahl von Gedanken, in der Beschäftigung, im Messen, Planen, in der Produktion einer Realität, anstatt unmittelbar zu erfahren, was von Augenblick zu Augenblick wirklich geschieht. |
Wenn wir in das geistige Geschehen eintauchen, bemerken wir, dass selbst der "Beobachter" zu einem Teil des Stromes wird.
Das "Wer", welches fragt "Wer beobachtet?" ist nur noch einer jener Gedankenblitze, die an uns vorübereilen. "Niemand" beobachtet, nur das Gewahrsein existiert. Wenn das "Ich" zu einer der im Strom dahinziehenden Beobachtungen wird, begreifen wir, dass zwischen uns und allen anderen Dingen des Universums kein Unterschied besteht. Die wirkliche Natur des Seins wird offenbar, denn es bestehen keine trennenden Grenzen mehr, und nichts kann unsere Ganzheit verdecken. Wir erkennen, dass die Kraft, die einen Gedanken in den nächsten übergehen lässt, auch die Sterne über den Himmel bewegt. Es ist genau dieselbe Energie. Wie der Ozean oder der Wind sind auch wir ein Naturphänomen, das vielfältigen Wandlungen unterworfen ist - ein Produkt der Konditionierung. Wir erkennen, dass die Natur des Bewusstseins auf ähnliche Weise wirkt wie die Hand Gottes, die sich auf dem berühmten Fresko in der Sixtinischen Kapelle ausstreckt, um einem Wesen Leben zu schenken - einem Wesen, das bereit ist, den Lebensfunken zu empfangen. Wir empfangen diesen Lebensfunken in jedem einzelnen Augenblick. Dieser Funke ist das Bewusstsein, die Kraft des Wissens, die Wahrnehmung dessen, was aus dem Kontakt von Gewahrsein und dessen Objekt entsteht; aus dem Sehen und dem gesehenen Baum, aus dem Hören und der gehörten Musik, aus dem Tastsinn und der gefühlten Erde, aus dem Geschmackssinn und dem geschmeckten Wasser, aus dem Geruchssinn und der gerochenen Blume, aus dem Denken und der vorgestellten Idee. |
Von Augenblick zu Augenblick entsteht das Bewusstsein in der Verbindung mit den Objekten der Sinne aufs Neue, einschließlich der geistigen Sinne der Vorstellung und Erinnerung. Hier entspringt und verebbt alles aus unserer Lebenserfahrung stammende Wissen. Der Eintritt der Achtsamkeit in diesen Prozess bedeutet, in jedem einzelnen Augenblick den Ursprung, die unablässige Schöpfung des Alls zu entdecken.
Interessanterweise ist es gerade dieser Schöpfungsakt, der dem größten Missverständnis unseres Lebens zugrunde liegt. Genauer gesagt ist es unsere Gleichsetzung dieses ständig fortschreitenden Prozesses mit einem "Ich", die das Problem hervorruft. Es ist die falsche Sicht auf jene natürliche Entfaltung, worauf unsere schläfrige Blindheit und Illusion größtenteils gründen. Bewusstsein resultiert automatisch aus dem Kontakt zwischen dem Gewahrsein und dessen Objekt. Dieses "Wissen" ist das Ergebnis eines natürlichen Prozesses, der sich von selbst und völlig unabhängig von einem "Wissenden" oder irgendeinem hinzugefügten "Ich" vollzieht, welches sich für diesen essentiell nicht-persönlichen Prozess verantwortlich wähnt. Dieses eingeflochtene "Ich" hindert uns daran, an der direkten Erfahrung dieses Flusses, an der direkten Erfahrung der universalen Natur unseres Seins teilzuhaben. "Ganz und gar sein heißt, alles zu sein." Erfahrungen kommen und gehen. Wenn wir uns mit ihnen identifizieren, wenn wir sie im Zuge unserer Bewertungen und Verhaftungen als "mein" eigen beanspruchen, wenn wir uns an irgendeinem Aspekt des unaufhaltsamen Stromes verklammern, dann bleibt uns verborgen, dass dieses sogenannte "Ich" fortwährend geboren wird und stirbt. Wir erkennen nicht, dass es aus einem Prozess besteht, bei dem Gewahrsein und Objekt ungezählte Male in der Minute ins Dasein treten und wieder vergehen. Sobald das Gewahrsein tiefer in den Strom eindringt, erfahren wir, dass unsere natürliche Beschaffenheit, unser natürlicher Wesenszustand, den manche den Geist der Weisheit oder die Buddha-Natur nennen, der ewig leuchtenden Sonne gleicht immer gegenwärtig, doch zuweilen verschleiert. Es sind die Wolken des Denkens, des Verlangens und der Furcht, die uns von unserem ureigenen Licht trennen. Es ist der trübe Schleier des konditionierten Geistes, der Wirbelsturm namens "Ich bin". |